Ein Bericht von unserem Vereinsmitglied Lars Jaeger. Mehr Infos über Lars findet ihr hier.
Im Sommer 2007 reiste ich nach Hanoi, um die Geburtsmutter meiner Adoptiv-Tochter zu suchen. Aber noch etwas anderes wollte ich in Hanoi: Jemanden kennenlernen, über den ich schon einige großartige Geschichten gehört hatte. Mit seiner „Grass-root“ Organisation „Blue Dragon Children Foundation“ hatte er es unter amerikanischen Expats in Vietnam zu einer gewissen Bekanntheit gebracht. Er soll sich um Straßenkinder in Hanoi kümmern, wie ich gehört hatte, deren Schicksal in Vietnam selbst kaum weitere Beachtung erhielt, und zudem aktiv gegen das wachsende Problem des „Child trafficking“ vorgehen, das in der vietnamesischen Gesellschaft und Regierung kaum mehr Aufmerksamkeit erregte. Es handelte sich um einen jungen Australier in seinen frühen Dreißigern, der mit seiner Organisation etwas Außerordentliches auf die Beine gestellt hatte, wie man sagte.
Es gelang mir tatsächlich, die leibliche Mutter meiner Tochter aufzufinden. Nach einer emotionalen Fahrt zurück von ganz im Norden des Landes, einen Steinwurf von der Grenze zu China entfernt, ging ich nun daran, dem zweiten Zweck meiner Reise ins Geburtsland meiner ältesten Tochter nachzugehen. Und er sollte nicht viel weniger prägend für unsere Familie sein, wie das Kennenlernen des vietnamesischen Teils unserer Familie.
Michael Brosowski liebt das Café Little Hanoi in der Hang Gai Straße, wo wir uns dann auch trafen (und dies oft bis heute noch tun, wenn ich in Hanoi bin; allerdings ist es vor zwei Jahren umgezogen). Es wurden mehrere eindrucksvolle Stunden, in denen er mir von seiner Geschichte als junger Englischlehrer in Hanoi erzählte, der zufällig ein paar Straßenkinder traf und daraus ein sein ganzes lebende prägende Vision entwickelte, diesen Menschen zu helfen. Er erzählte mir von traumatisierten jungen Menschen, Jungen und Mädchen, die nach ihrer Entführung zur Zwangsarbeit gezwungen, letztere oft auch zur Prostitution oder Zwangsverheiratung im nahen China, vom Schicksal der Kinder auf den Straßen von Hanoi, die sich mit dem Verkaufen von Postkarten an Touristen ein paar Dong verdienen wollen (ein Euro sind ca. 28‘000 Dong), aber auch von dem großen Potenzial dieser jungen Menschen, denen man mit logistischer Hilfe, Zuneigung und psychologischer Betreuung auf erstaunliche Wege bringen kann. So arbeitete er gerade daran, einigen der Straßenkindern den Schulabschluss mit anschließenden Studium zu ermöglichen, oder andere Ausbildungen in Restaurants, Hotels oder Motorradwerkstätten. Und wie das mit solchen Gesprächen so ist, entstehen dabei immer wieder aufregenden Ideen.
Ich war sehr beeindruckt, und so entstand in mir die Idee, ob man solchen Menschen nicht vielleicht auch mit eine ganz andere Lehre helfen könnte: Unternehmertum. Mit einer guten Geschäftsidee sollte der eine oder andere Überlebenskünstler von der Straße doch zu einer erfolgreichen Firmengründung gebracht werden. Und hier erfasste ich bereits früh in unserer Freundschaft einige der Dinge in Michael, die ihn auszeichnen: Begeisterung für neue Ideen und Lösungen, schnelle und tiefe Einsichten in ihre mögliche Umsetzung, ein gesunder Pragmatismus und vor allem ein riesiges Herz für diese jungen Menschen, denen er sein Leben widmete. Sofort hatte er eine Idee: Wir sollen doch einen Motorradverleih mit angeschlossener Werkstatt gründen. Einen Mechaniker, der die jungen Menschen ausbilden könnte, kannte er auch schon, ein australischer Landsmann. So entstand die Idee von VIP Bikes. In den folgenden Tagen, die ich noch in Hanoi verbringen sollte, erarbeiteten wir einen Geschäftsplan mit Finanzierungsmodell. Und mit der Rückkehr nach Europa begleitete mich der Gedanken, dass ich bald Teilhaber einer Firma in Vietnam sein werden, und meine Partner darin Straßenkinder aus Hanoi. VIP Bikes wurde eine Erfolgsgeschichte; die Firma wurde das 20 Monate später von einigen der nun jungen Erwachsenen zusammen mit dem australischen Mechaniker aufgekauft, und dies mit einem Gewinn für mich als Geldgeber. So finanzierte ich meine erste Spende an Blue Dragon.
Nach unserem Treffen im Little Hanoi führte mich Michael zum Blue-Dragon-Zentrum, damals noch in der Nghia Dung Straße nahe am Roten Fluss. (unterdessen ist das Zentrum in eine viel zentrale Gegend umgezogen, nur wenige 100 Meter von berühmten Opernhaus von Hanoi entfernt). Schon von weitem hörte ich spielende und lachende Kinder, die mich sofort neugierig in ihre Mitte nahmen. Wer war dieser neue Freund ihres Freundes und Förderers? Die Jungs wollten sofort über meine europäische Lieblings-Fußballmannschaft erfahren (den FC Zürich oder den 1. FC Köln kannten sie allerding nicht). Am liebsten hätten sie auch gleich Fußball mit mir gespielt, etwas was sie, wie Michael mir erzählte, jeden Sonntag mit einer eigenen Blue Dragon Mannschaft tun (dies bis zum heutigen Tag).
Einige Stunden später ging ich zurück in mein Hotel im tiefen Wissen, einen außergewöhnlichen Menschen getroffen zu haben. Kaum hat mich jemals jemand direkt und sofort so tief beeindruckt wie Michael Brosowski an jenem Tag vor nun 14 Jahren. Und ich ahnte, dass hier eine Freundschaft entstehen sollte, die über viele Jahre Bestand haben sollte. Ich sollte mich nicht getäuscht haben. Über die Jahre konnte ich oft von nächster Nähe (ich sollte noch viele weitere Male nach Hanoi reisen, und über die Jahre führten Michaels Fundraising-Reisen auch immer öfters in die Schweiz, wo sich unterdessen eine richtige Blue Dragon-Fangemeinschaft entwickelt hat) das Wachstum von Blue Dragon aus einer Vision und dem Engagements eines beeindruckenden Menschen heraus von einer kleinen Organisation mit einer Handvoll von Mitarbeitern zu einem der größten NGOs Vietnams verfolgen.
Wer heute mit Michael zusammentrifft, erkennt in ihm immer noch den jungen Mann mit leuchtenden Augen, der von diesen großartigen Menschen spricht, die unter sehr schwierigen Umständen leben, oft Opfern von Missbrauch sind, denen geholfen werden muss und welch große innere Freude es ihm schenkt, diesen Menschen eine Chance für eine glückliche Zukunft zu geben. Er scheint immer noch jedes einzelnes von den vielen Hunderten jungen Mädchen zu kennen, die er aus chinesischen Bordellen geholt hat, von den Tausenden von Kindern, denen er zunächst Schutz und eine Unterkunft und dann eine Zukunft ermöglicht hat (mehr als zweihundert der Kinder, denen Blue Dragon geholfen hat, haben unterdessen an einer Hochschule studiert). Und wer dann noch ein wenig Zeit mit sich bringt, der erfährt von unglaublichen Geschichten, zutiefst traurige wie sehr freudvolle, die zeigen, wie viel Wert und Potenzial in jedem einzelnen Menschen stecken, auch und besonders in den Straßenkindern von Hanoi.