Veröffentlichungsdatum: 19.07.2020
Tan sieht aus wie jeder normale Teenager. Er trainiert im Fitnessstudio, spielt Fußball, lernt Hip-Hop und nimmt jeden Morgen an einem Back-Kurs teil. Blue Dragon lernte Tan vor zwei Jahren kennen, als er auf den Straßen von Hanoi als Schrottsammler arbeitete. Er war klein und schüchtern und sprach kaum ein Wort mit jemandem. Auch heute noch ist er eines der ruhigsten Kinder in unserer Anlaufstelle. Anfangs zögerte Tan, bei Blue Dragon zu bleiben. Er war froh, eine ordentliche Mahlzeit und Kleidung zum Wechseln zu bekommen, aber nachts ging er lieber zurück auf die Straße und schlief im Wachhaus einer Firma auf der anderen Seite der Stadt. Es dauerte viele Monate, bis Tan sich uns anvertraute und den Mitarbeitern von Blue Dragon nach und nach erzählte, wie es dazu kam, dass er auf der Straße lebt.
Tan gehört zu den H’mong, einem indigenen Volk Ost- und Südostasiens. Er ist in einem kleinen Dorf hoch oben in den Bergen aufgewachsen. Seine Familie war sehr arm und das Leben zu Hause unerträglich. Sein Vater war oft betrunken und gewalttätig. Tan fühlte sich nie sicher und die Schläge wurden regelmäßiger, je älter er wurde. Als seine Mutter starb, heiratete sein Vater erneut und gab sowohl Tan als auch dessen Schwester an eine andere Familie ab. Doch auch diese war so arm, dass Tan zurück zu seinem Vater ging, wo die Gewalt erneut eskalierte und er jeden Tag um sein Leben fürchtete. Im Alter von 7 Jahren hielt es Tan nicht mehr aus. Er verließ das Haus seines Vaters, fest entschlossen, nie wieder zurückzukehren.
Mit nichts als den Kleidern, die er trug, wanderte Tan durch den Dschungel, über steile Berge und Flüsse. Manchmal stieß er auf ein Dorf, hielt im Haus eines Fremden an, um zu essen, oder pflückte Früchte von tiefhängenden Ästen. Er wusste nicht, wohin er ging, aber Tan hatte keine Angst. Er lief einfach weiter. Tan erinnert sich nicht an sein Heimatdorf – in diesem Teil Vietnams gibt es keine Adressen – aber er weiß, dass er nach 15 Tagen eine Provinz erreicht hatte, die etwa 100 km von seinem Zuhause entfernt war. Dort nahm ihn eine Familie für ein paar Tage auf, bevor sie ihn in die nächstgelegene Stadt brachte und in einem Schutzzentrum absetzte. Da niemand wusste, wo Tans Familie lebte, wurde das Zentrum sein neues Zuhause. Für die nächsten zwei Jahre lebte er dort und begann zur Schule zu gehen. Bis zu diesem Zeitpunkt sprach Tan kein „Kinh“, die offizielle Sprache, die gemeinhin als „Vietnamesisch“ bekannt ist. Er kannte nur die Sprache der H’mong. Und so lernte er in diesem neuen Leben auch eine neue Sprache.
Eines Tages besuchte eine wohlhabende, alleinstehende Frau aus Hanoi das Zentrum und entschied sich, Tan zu adoptieren. Plötzlich taten sich neue Möglichkeiten für ihn auf. Er zog nach Hanoi und genoss anfangs sein Leben als Adoptivkind, doch die Freude war nicht von langer Dauer. Seine „vietnamesischen“ Sprachkenntnisse waren noch sehr rudimentär und alles war neu und fremd. In einem Vorort von Hanoi zu leben, anstatt in den Bergen herumzustreifen und auf Bäume zu klettern, war eine radikale Veränderung in seinem Leben. Hinzu kam, dass Tans Adoptivmutter zwar das Beste für ihn wollte, jedoch nicht wusste, wie sie ihren Sohn unterstützen konnte. Wenn er schlecht in der Schule war, schlug sie ihn und hielt ihm lange Vorträge. Er bemühte sich, wusste aber nicht, was von ihm in dieser neuen Kultur und der neuen Stadt erwartet wurde.
Nach fast 5 Jahren lief Tan davon. Er hatte sein Bestes gegeben, um es seiner Adoptivmutter recht zu machen, aber die Beziehung funktionierte nicht. In den folgenden Monaten zog Tan von Ort zu Ort, wohnte in Pagoden oder bei Freunden. In einer Pagode wurde er zur Strafe in einen Hundekäfig gesperrt, in einer anderen wurde er verprügelt, als seine Schulnoten nicht gut genug waren. Erstaunlicherweise lernte Tan trotzdem weiter, bis er Arbeit in einer Fabrik fand, die religiöse Statuen herstellte.Schließlich landete er auf der Straße, allein. Als seine Adoptivmutter davon erfuhr, setzte sie ihn in einen Bus zurück in das 300 km entfernte Schutzzentrum. Aber Tan wollte nicht mehr an diesem Ort sein, der ihm mittlerweile fremd geworden war. Er würde keines der Kinder im Zentrum kennen und er bezweifelte, dass er dort wieder zur Schule gehen könnte. Also tat er, was er gewohnt war zu tun. Er lief erneut davon, zurück nach Hanoi.
Genau wie bei seiner ersten Flucht weg vom Haus seines Vaters, war Tan nicht sicher, in welche Richtung er gehen musste. Manchmal folgte er der Straße, manchmal wanderte er durch Wälder und folgte Flüssen. Manchmal traf er freundliche Menschen, die ihm etwas zu essen gaben, zu anderen Zeiten wanderte er tagelang mit nichts im Bauch und brach vor Erschöpfung zusammen. Wenn er Glück hatte, fand er leere Häuser mit fließendem Wasser, das er trinken konnte, oder ein Fremder teilte eine Mahlzeit mit ihm am Straßenrand. Tan kann sich nicht mehr genau erinnern, wie lang diese zweite Wanderung dauerte: mehrere Wochen, vielleicht sogar einen Monat. Als er wieder in Hanoi ankam, fand er ein paar freundliche Wachmänner, die Mitleid mit dem kleinen Jungen hatten und ihn auf ihren Stühlen im Wachraum schlafen ließen. Ein paar Tage später machte jemand Blue Dragon auf diesen stillen Jungen aufmerksam, der seine Tage damit verbrachte, auf der Straße Schrott zu sammeln.
Das war vor mehr als zwei Jahren. Tans Augen sind immer noch verdunkelt von den Schatten dieser Zeit in seinem Leben. Er hat viele Fragen, die noch unbeantwortet sind, und Einiges, das er nicht versteht. Wir arbeiten mit ihm daran, die Puzzleteile zusammenzusetzen und ihn von den vielen traumatischen Ereignissen zu heilen, die er erlebt hat. Aber es wäre falsch, Tan nur als ein Opfer zu sehen. Ja, er hat ohne eigenes Verschulden sehr gelitten, und er verdient die beste Fürsorge, die wir ihm geben können. Doch Tan ist ein außergewöhnlich tapferer Teenager, von dessen Widerstandskraft angesichts extremer Not wir alle lernen können. Seine Geschichte sollte uns inspirieren, alles zu tun, was wir können, um Kindern den sicheren, glücklichen und gesunden Start ins Leben zu ermöglichen, den sie brauchen.
Übersetzt von Kirsten Broschei (Fotos und Text aus dem Blog vom Blue Dragon Gründer Michael)