Erfahrungsbericht von Katharina Maier
Reisen ist meine große Leidenschaft. Doch nicht alles daran ist so wunderbar und glanzvoll, wie es in den sozialen Medien oft dargestellt wird. Manchmal sieht man Dinge, die einen sprachlos machen und traurig stimmen. So war es für mich am 26. Februar 2020 in Du Gia Dorf in der nordvietnamesischen Provinz Ha Giang. Darf ich vorstellen? Die Geschichte von Chu und Gio.
Nach einem langen Tag saß ich mit Freund:innen in einer kleinen Bar, als mir gegen 23 Uhr ein kleiner Junge auf der Straße auffiel. Seine Kleidung war verdreckt und verschlissen, er wühlte im Müll und war ganz allein. Er trug keine Schuhe, sprach kein Wort und hatte leblose, traurige Augen. Wir schätzten ihn aufgrund seiner kleinen, dünnen Statur auf etwa vier Jahre. Von einer Anwohnerin erfuhren wir, dass er ein verlassenes Kind sei und bereits seit geraumer Zeit alleine in einer kleinen Höhle am Fluss schlief. Sie erzählte uns, dass niemand mit dem Jungen sprechen konnte, weil er kein Vietnamesisch, sondern Hmong sprach. Wir waren schockiert und wussten, dass wir ihn nicht zurücklassen konnten. Daher nahmen wir den Kleinen mit in unser Hostel, wo er eine Dusche, saubere Kleidung und ein Bett bekam. Für uns stand fest, dass wir das Dorf nicht verlassen konnten, ohne ihn in Sicherheit und versorgt zu wissen. Am gleichen Abend haben wir Blue Dragon um sofortige Hilfe gebeten – mit Erfolg. Sie meldeten sich am nächsten Tag auf unsere Nachrichten zurück und lieferten Pläne zur Notfall-Soforthilfe.
Erleichtert kauften wir dem Jungen nach einem ausgiebigen Frühstück Kleidung und etwas Essen. Außerdem besuchten wir seine kleine Höhle, in die er eine dünne Decke gelegt hatte, um nicht auf Stein schlafen zu müssen. Zu dem Zeitpunkt wurde mir klar, wie schlau der Junge ist. Obwohl er wochenlang auf sich allein gestellt war, hatte er überlebt und er verstand, dass wir Fremden ihm helfen wollten.
Schon am nächsten Tag wurde Blue Dragon vor Ort aktiv. Die Mitarbeitenden fanden heraus, dass der kleine Junge Chu heißt und fünf Jahre alt ist. Außerdem hat Chu einen älteren Bruder, Gio, zehn Jahre alt. Beide waren von Zuhause abgehauen, da ihr Vater sich aufgrund von Alkoholproblemen nicht um seine Söhne kümmerte. Außerdem verbot er ihnen, in die Schule zu gehen. Ihre Mutter wiederum hatte die Familie verlassen und lebte mittlerweile in China.
Gemeinsam mit meinen Freund:innen habe ich die Finanzierung für das Leben beider Jungs übernommen. Seitdem hat sich viel getan. Wir haben außerdem eine Go Fund Me Seite für sie errichtet, um Spenden zu sammeln, die wir dann nach Blue Dragon Vietnam überweisen.
In den letzten anderthalb Jahren kamen Chu und Gio in eine Pflegefamilie, erhielten Essen, Kleidung und, ganz wichtig, die Möglichkeit zur Schule zu gehen. Während es Gio bis heute schwerfällt, sich auf das „neue” Leben einzulassen und er wieder zu seinem Vater zurückgekehrt ist, ist Chu Feuer und Flamme. Er liest, schreibt, spielt, wächst und kann endlich Kind sein. Wenn man die Fotos von Februar 2020 und Juni 2021 vergleicht, ist der Unterschied gewaltig. Aus traurigen, leblosen Augen wurden freche, fröhliche Kinderaugen. Hier könnt ihr mehr über sie erfahren.
Seit dem 26. Februar 2020 ist das Leben von Chu und Gio nicht mehr so, wie es vorher war. Meines übrigens auch nicht. Es klingt wie ein Klischee, aber es steckt so viel Wahrheit dahinter: Ich habe verstanden, wie gut es mir geht und gemerkt, wie viel positive Energie ich daraus ziehe, etwas wirklich Sinnvolles für Andere bewirken zu können. Ich bin glücklich, dass die beiden Kämpfer jetzt eine Chance in dieser Welt haben, die sie vorher nicht hatten. Die Chance, Kind zu sein, zu lernen und sich ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen. Meine Bitte an Euch: Haltet eure Augen offen, wenn ihr unterwegs seid. Schaut nicht weg. Denkt daran: Jede und jeder kann Leben retten und verändern.